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„SoZ“ 4/2020
Die „Märzrevolution“ von Lucas erhält eine „defititiver Fassung“
von Reiner Tosstorff
Am 13.März jährten sich der Kapp-Putsch gegen die Weimarer Republik und der ihn niederringende Generalstreik mit den anschließenden Kämpfen insbesondere im Ruhrgebiet zum 100.Mal.
Während inzwischen die Novemberrevolution 1918 und die Errichtung der Republik in das offizielle Geschichtsbild der Bundesrepublik eingegangen ist, gilt das in bezug auf den März 1920 allenfalls noch für den Generalstreik als Ausdruck «zivilen Ungehorsams». Doch schon für die sich daran anschließenden Kämpfe gilt das nicht mehr, denn da versuchte die Arbeiterschaft, Lehren aus dem Jahre 1919 zu ziehen, um eine Wiederholung des Putsches zu verhindern.
Doch erneut kam es zu einem blutigen Gemetzel, als die SPD-geführte Regierung vor allem im Ruhrgebiet ein weiteres Mal Reichswehr und Freikorps einsetzte. Mit dieser nochmaligen Niederlage der Arbeiterbewegung endete die im November 1918 begonnene Welle der Revolution in Deutschland. Bei den Wahlen Anfang Juni 1920 erlitt die SPD drastische Verluste. Die USPD lag jetzt fast gleichauf, war in manchen Industriegebieten sogar stärker. Die Regierungskoalition hatte ihre Mehrheit verloren.
Nur ein Kampf für Demokratie?
Den Stellenwert dieser Ereignisse hat Richard Löwenthal im Jahre 1974 prägnant beschrieben: «Die Abwehr des Kapp-Putsches, von der die bewaffnete Erhebung der Arbeiter des Ruhrgebiets einen Teil bildete, war der Höhepunkt der revolutionären Bewegung der deutschen Arbeiter nach dem Ersten Weltkrieg. Weder vorher noch nachher sind so breite Arbeiterschichten für ein kämpferisches, demokratisch-revolutionäres Programm in Aktion getreten.»
Löwenthal fügte dieser Zusammenfassung die Bewertung an, diese Kämpfe seien auf demokratische Forderungen begrenzt gewesen und hätten keine Dynamik hin zu einem Kampf um die Sozialisierung der Schlüsselindustrien oder zur Wiederbelebung der Räte aufgewiesen. Diese Deckelung ist Ausdruck seiner in den 50er und 60er Jahren eingenommenen Stellung als Ideengeber auf dem rechten Flügel der SPD.
Im folgenden richten wir den Blick auf wichtige Veröffentlichungen
anlässlich des 100.Jahrestags, an Hand derer sich überprüfen lässt, ob
die Deutung Löwenthals richtig ist.
Klaus Gietinger hat den mit seiner Geschichte der Novemberrevolution* begonnenen Faden (siehe SoZ 11/2018) weitergesponnen. In dem 2019 erschienenen Buch Blaue Jungs mit roten Fahnen. Die Volksmarinedivision 1918/19
hat er sich der lange Zeit fast vergessenen Geschichte der
«Volksmarinedivision» gewidmet, die nach Beginn der Revolution aus den
Matrosen der rebellierenden Kieler Flotte entstanden und in die
Hauptstadt geeilt war. Sie übernahm im Winter 1918/19 den Schutz der
neuen Republik etwa bei der Bewachung offizieller Gebäude und
Einrichtungen. Im März 1919 wurde sie von Noskes Freikorps in die Falle
gelockt und zerschlagen. Zahlreiche ihrer Angehörigen kamen dabei um.
Nun hat er daran eine Darstellung des Kapp-Putsches und der Kämpfe vom
März 1920 angefügt.* Auch sie ist eine gelungene Darstellung.
Sie
setzt mit einer Zusammenfassung der Herausbildung der Putschkräfte in
Gestalt der diversen offiziellen und inoffiziellen militärischen
Verbände und ihrer zivilen Mitverschwörer ein. Ausführlich werden dann
zunächst die Ereignisse in der Hauptstadt und die vielen Abwehrkämpfe
über ganz Deutschland dargestellt, wobei das Ruhrgebiet herausragt. Nur
hier konnte sich eine neue Kraft in Gestalt der «Roten Ruhr-Armee»
formieren, deren blutige Niederschlagung nach einem angeblichen
Kompromiss sich längere Zeit hinzog.
Dabei diskutiert Gietinger auch
die Frage, ob es in Berlin bei den Kontakten zwischen Gewerkschaften
und den Arbeiterparteien auch die Möglichkeit zu einer Verständigung auf
eine neue «Arbeiterregierung» gegeben hätte, für die sich ausgerechnet
der bis dahin als entschiedener Gegner der revolutionären Bewegung
aufgetretene Gewerkschaftsvorsitzende Carl Legien aussprach. Die
Gespräche scheiterten am Hin- und Herschwanken der verschiedenen Flügel
der USPD, und so bezeichnet er dies nicht zu Unrecht als eine vertane
Gelegenheit. Auch wenn es Historiker gibt, die begründet vermuten,
Legien habe den Vorschlag nur gemacht, weil er damit rechnete, es werde
eh nicht dazu kommen.
Die Pioniertat
Gietingers Buch bietet für die an einem kompakten Überblick interessierten Lesekreis die zugänglichere Darstellung, die zudem auf dem neuesten Kenntnisstand aufbauen kann. Doch auch er ist, wie er selbst betont, dem «Mammutwerk» des 1993 verstorbenen Historikers Erhard Lucas** verpflichtet, das zwischen 1970 und 1983 in drei Bänden vorgelegt wurde. Mit dieser Pioniertat entriss Lucas die Märzrevolution mit dem Schwerpunkt Ruhrgebiet der Verleumdung und dann dem Vergessen, in die sie erst die «demokratische Konterrevolution» des Jahres 1920 und dann die faschistische Diktatur ab 1933 gebracht hatten. Noch lebten Zeitzeugen, lagen die Ereignisse nur etwas mehr als eine Generation zurück.
Das umfangreiche historische Werk wies in der Nach-68er-Zeit eine vergleichsweise hohe Auflage auf – nicht untypisch für die Organisationsphase der radikalen Linken in jener Zeit mit ihrer Erwartung einer baldigen Wiederauflage militanter Klassenkämpfe. Von dieser Haltung blieb auch Lucas’ eigener Blick auf die «kämpfenden Proletarier» in den Fabriken und Gruben und dann in den militärischen Auseinandersetzungen nicht ganz unberührt, wie er 1983 in einem Band «über das Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung» mit einer gewissen Selbstkritik anmerkte. Gescheitert sei sie, weil die männerzentrierte organisierte Arbeiterbewegung eine Trennung von Haushalt und außerhäuslicher Politik verfolgt und, fest einem gleichsam naturwissenschaftlich begründeten Fortschrittsoptimismus verpflichtet, die Bemühungen um die Herstellung von Sinnperspektiven in den Lebenszusammenhängen ausgeblendet habe.
Lange vergriffen, sind jetzt sowohl das monumentale Werk von Lucas wie auch sein damit verbundener Essay vom Verlag Die Buchmacherei neu aufgelegt worden. Handelt es sich bei letzterem im wesentlichen um einen Nachdruck mit einem erläuternden Vorwort, ist beim ersteren vor allem auf die sorgfältige Editionsarbeit hinzuweisen. Es liegt nicht nur neu gesetzt in jetzt zwei Bänden mit über 1200 Seiten vor. Auch die von Lucas selbst bei früheren Neuauflagen vorgenommenen Korrekturen und Ergänzungen sind eingearbeitet und zusätzliche Erläuterungen einschließlich einer ausführlichen Einführung gegeben, sodass man hier von der «definitiven Fassung» reden kann, deren Lektüre viel Geduld erfordert, aber dafür auch große Erkenntnisse einbringt.
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