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„Sozialismus“ 2-2012
Für „die aktuellen Debatte um historische Perspektiven“ unverzichtbar
Vor fast neun Jahrzehnten schrieb Richard Müller, führender Kopf der Revolutionären Obleute im Deutschen Metallarbeiter-Verband, deren Sprecher auf dem linken Flügel der USPD, Vorsitzender des Vollzugsrates der Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte 1918/19 und 1922 als kommunistischer Gewerkschaftsfunktionär aus der KPD ausgeschlossen, jene drei Bücher, die nun, erstmalig in einem Band vereinigt, nachgedruckt vorliegen. Für die Neuausgabe wurden Müllers Bände neu gesetzt und ihre Seitenzahlen fortgeschrieben, was für Vergleiche und Zitierungen beachtet werden muss.
Richard Müller verhehlte zwar nicht seine Zeitzeugenschaft als Führungsgestalt in der deutschen Revolution, aber er schrieb keine Memoiren, sondern gestützt auf die von ihm gesammelten Dokumente der Rätebewegung eine kompakte, gründlich dokumentierte Geschichte der Revolution von 1918/19 einschließlich ihrer Vorgeschichte, die er 1924/25 im Malik-Verlag bzw. in dem von ihm mitbegründeten Phöbus-Verlag publizierte. Müller schrieb mit dem Anspruch, „einen Beitrag zur Selbstreflektion der revolutionären Bewegung“ zu leisten, „die er noch nicht als abgeschlossen betrachtete“ (Einleitung der Hrsg., S. 17).
Unter der Überschrift „Ein revolutionäres Vermächtnis – Richard Müller und seine Geschichte der Novemberrevolution“ stellt Ralf Hoffrogge dem Nachdruck des Müllerschen Werkes eine Einleitung voran (S. 11-25), in der er die Biographie Müllers skizziert und die Wirkungsgeschichte seiner Schriften erörtert. (1) Hoffrogge hebt zu recht hervor, dass Müllers Revolutionsgeschichte zwar bei Historikern über die Jahrzehnte gut bekannt blieb und – meist als Fakten-Steinbruch – genutzt wurde, dass sie aber in den Strömungen der Arbeiterbewegung verdrängt worden ist. Der nachrevolutionären und staatserhaltenden Sozialdemokratie musste der bekennende Revolutionär als linker Extremist erscheinen. In das Bild der parteikommunistischen Historiographie, die allein auf eine von Spartakus begründete Traditionslinie setzte, passte der zudem aus der KPD ausgeschlossene Revolutionshistoriker ebenso wenig.
Die mehr oder weniger direkte Rezeption der Revolutionsdarstellung Müllers durch Arthur Rosenberg und Ossip K. Flechtheim, auch deren Weiterwirkung in Arbeiten von Fritz Opel, von Eberhard Kolb und insbesondere von Peter von Oertzen kennzeichnet Hoffrogge zutreffend als „Minderheitenstrang in der westdeutschen Geschichtswissenschaft“ (S. 23). Die Mehrheitsströmung habe in der Interpretation der Revolution 1918/19 an dem „konstruierten Gegensatzpaar Demokratie-Kommunismus“ (S. 22) festgehalten und nur bürgerliche und sozialdemokratische Stimmen zur Kenntnis genommen. Desinteresse an historischen Alternativen und an den Kämpfen um den sozialen Charakter der Weimarer Republik bestimmte auch den Inhalt der Schulbücher und die Erinnerungskultur.
Im Gegensatz zum Mainstream der akademischen Historiographie interessierten sich Gewerkschaften und die Studentenbewegung der 60-er Jahre sehr wohl für Müllers Arbeiten über eine Rätedemokratie, die sie der rückständigen und dringend reformbedürftigen Gesetzgebung der Bundesrepublik auf dem Gebiete der wirtschaftlichen und politischen Mitbestimmung gegenüberstellten. Diese Bewegung rief Ende der 60-er und Anfang der 70-er Jahre eine größere Anzahl von Dokumentationen zur Rätefrage in der Novemberrevolution hervor, in denen auch Positionen Richard Müllers reflektiert wurden. Müllers frühe Trilogie über die Revolution 1918/19 wurde in fotomechanischen „Raubdrucken“ von Hand zu Hand gereicht, bis 1973/74 die bisher letzte Neuauflage in der „Kritischen Bibliothek der Arbeiterbewegung“ erschien.
Die Ausgaben von 1924/25 und 1973/74 sind heute nur noch in wenigen Exemplaren auf dem Antiquariatsmarkt anzutreffen. Seltenheit und Nachfrage trieben deren Preis in extreme Höhen. Der hier anzuzeigende Nachdruck schließt also eine empfindliche Lücke im normal zugänglichen Bestand an marxistischer Literatur über das revolutionäre Geschehen während des Ersten Weltkriegs und der ihm folgenden Revolution in Deutschland. Damit gelingt das Vorhaben der Herausgeber, „Müllers Thesen vom unfreiwilligen Status eines Geheimtipps“ zu lösen und „sie in den allgemein zugänglichen Fundus historischer Kampferfahrungen“ zurück zu bringen (S. 25). Der Satz zielt auf die politische Aktualität der „alten“ Schriften. In der Tat bietet der Band hinreichend Gesprächsstoff für geschichtsbewusste Debatten über die Zusammenhänge zwischen Sozialismus und Demokratie, über Wirtschaftsdemokratie und über das Verhältnis von repräsentativer parlamentarischer und Basisdemokratie. Aber auch die Fachhistoriker sind herausgefordert, die Renaissance des Müllerschen Werkes aufzugreifen, sich nicht nur des in ihm ausgebreiteten reichen Faktenmaterials zu bedienen, das ohnehin indessen noch umfassender und genauer, als es Müller möglich war, dokumentiert und dargestellt wurde, sondern – natürlich nicht unkritisch – den methodologischen Ansatz zu prüfen, wenn es um weitere Arbeiten über die deutsche Revolutionsgeschichte und ihre bis in Gegenwart und Zukunft fortwirkenden Implikationen geht.
Der Band mit Richard Müllers revolutionsgeschichtlichen Abhandlungen und Dokumentenanhängen gehört nicht nur in den Grundbestand der Bibliotheken, sondern auch in das Handregal des Historikers und aller historisch Interessierten, besonders jener, die sich an der aktuellen Debatte über historische Alternativen beteiligen wollen. Ralf Hoffrogge ist zu beglückwünschen, dass es ihm nach seiner verdienstvollen Richard-Müller-Biographie gelang, die notwendige Unterstützung zu finden, nun auch das Hauptwerk seines Protagonisten wiederzubeleben.
Ingo Materna
Müllers Biographie sowie die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte seiner drei Bücher sind ausführlicher behandelt von Ralf Hoffrogge: Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution (=Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus, Bd. VII), Karl Dietz Verlag, Berlin 2008, S. 171-197.
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