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„Sozialistische Zeitung“ (SoZ), März 2009
Mit Sokrates für das Recht auf Wahrheit
„chatting with Sokrates – Dialog über Öl, Atom und Eichmann“ heißt das neue Buch der in Buenos Aires und Berlin lebenden Journalistin Gaby Weber. Seit Jahren beschäftigt sich Gaby Weber mit den Menschenrechtsverletzungen, mit ungesühnten Verbrechen, die an Mitgliedern von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen in Lateinamerika, insbesondere in Argentinien, verübt worden sind. Sie hat darüber u.a die Bücher „Die Verschwundenen von Mercedes Benz“ und „Daimler Benz und die Argentinien-Connection“ geschrieben und am Schluss den Film „Wundergibt es nicht“ gemacht.
Die ermordeten Opfer können nicht wieder ins Leben zurückgeholt werden. Ans Licht der Öffentlichkeit gebracht können jedoch die historischen Fakten, die belegen, wer für was die Verantwortung trägt. Dieser Aufgabe fühlt sich die Autorin verpflichtet und hat auf der Suche nach der „historischen Wahrheit“ zahllose Archive besucht und Gespräche geführt. Dabei stieß sie auch auf ein ausgeblendetes Kapitel deutscher Geschichte, das die spezifischen Beziehungen der Bundesrepublik mit dem neu entstandenen Staat Israel berührt und uns Einblicke gibt, wie sich die maßgeblichen Köpfen der deutschen Nachkriegselite außenpolitische Bedingungen schufen, die Ihnen die Konfrontation mit ihrer Vergangenheit ersparen sollten. Im Mittelpunkt steht der Verkauf des Nazi-Know-Hows für den A-Bombenbau, der als eine Art Schweigegeld gedacht war, von dem sich die Verkäufer erhofften, in Zukunft nicht mehr ständig auf die Anklagebank gesetzt zu werden.
Die Autorin hat eher aus Not die Darstellungsform eines Theaterstücks gewählt, weil ihr im historischen Hergang noch einige Steinchen für ein lückenloses Beweispuzzle fehlen, was daran liegt, dass die existierenden Dokumente vor allem in Deutschland bis heute unter Verschluss gehalten werden. Den roten Faden in der Hand haben als auftretende Personen Alicia als Alter Ego der Autorin und Sophía, die Kunstfigur einer argentinischen Journalistin. In ihrem Chat versuchen die beiden Frauen den geschichtlichen Hergang zu analysieren und holen sich Hilfe bei Sokrates.
Das Buch begleitet die maßgeblichen sozialen Akteure, die den Gang der Dinge bestimmen. Es sind „Big Oil“, „Big Car“ und „Big Money“, die vielfältige lukrative Beziehungen zum deutschen Faschismus pflegen. In diesem Zusammenhang treten dann auch die verschiedenen „Dienste“ auf. Eine wichtige Rolle spielte der Bundesnachrichtendienst, der u.a. bereits früh Kenntnis vom Aufenthaltsort Eichmanns in Argentinien hatte. Doch statt ihn mit einem Haftbefehl der deutschen Justiz suchen zu lassen, benachrichtigte man die CIA in der Hoffnung, dieser möge Eichmann an einen Ort bringen, an dem er nicht stört. Diesen Ort musste man dann selbst suchen und wählte Tel Aviv. In diesem Zusammenhang verfügt die Autorin über aussagekräftige Dokumente dafür, dass die offizielle Version der Eichmannentführung durch den Mossad eine Legende ist. Der entscheidende Grund für seine Entführung war nicht, ihn für die Organisation des Holocaust zur Verantwortung zu ziehen, sondern zu verhindern, dass er durch seine Mitwisserschaft ein Dreiecksgeschäft über atomare Schlüsseltechnologie zwischen Deutschland, Argentinien und Israel gefährdet. Es sind wohl diese historischen Tatsachen und ihre öffentliche Thematisierung, die dazu führen, dass eine offene Debatte darum in einigen linken Publikationen nicht möglich erscheint.
Der BND weigert sich, die für die Aufklärung der politischen Tatsachen erforderlichen Dokumente zu öffnen und hat der Autorin erklärt, sie könne es vielleicht 2017 noch einmal versuchen. Die Kanzlerin tut so, als habe sie kein Weisungsrecht gegenüber der Behörde. Die Rede ist von „wichtigen schützenswerten außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik“. Gaby Weber hat dieses Buch geschrieben, weil sie davon überzeugt ist, dass es in einer demokratischen Gesellschaft ein Recht auf historische Wahrheit geben muss, soll nicht akzeptieren werden, dass der Zynismus der Macht das letzte Wort hat.
Jochen Gester
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