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„UTOPIE Kreativ“ Heft 207, Januar 2008

„Bleibt zu hoffen, dass das unterbreitete Diskussionsangebot rege genutzt wird“
„Nur auf den ersten Blick scheint das Thema des Sammelbandes „Selbstorganisation…“ enger gefasst zu sein (als das Buch „Kontroversen über den Zustand der Welt“;). Der sogenannte Neoliberalismus hat auch die Arbeit verändert, und zwar häufig insofern, dass den Beschäftigten Verantwortung für bestimmte Bereiche übertragen werden: das Kommando des Vorgesetzten wird tendenziell ersetzt durch das Kommando des Marktes. Die Herausgeber fragen nun, welche Auswirkungen diese „Selbstorganisation“ der Lohnarbeit auf die Identität der Beschäftigten hat, und was dass für die Möglichkeit von sozialen Bewegungen bedeutet.
Leider hinterfragen manche der Autoren nicht, wie weit die Unabhängigkeit im „Postfordismus“ tatsächlich geht. Besonders im ersten Teil des Buches gehen sie sozialphilosophisch statt empirisch an das Problem heran und unterscheiden kaum nach den verschiedenen Sektoren. Der Unterschied, den es macht, ob eine Altenpflegerin oder ein gut bezahlter Softwareentwickler ein bestimmtes Arbeitskontingent „selbstbestimmt abarbeitet“, wird dadurch verwischt. Lars Meyers „Überlegungen“ über die „Organisierte Selbstorganisation“ ragen heraus: ein Überblick über die verschiedenen betrieblichen Strategien samt ihrer soziologischen Beschreibungen, denen Meyer einen marxistischen Erklärungsversuch gegenüber stellt. Im zweiten Teil werden dann beispielhaft Arbeitskämpfe und soziale Bewegungen dargestellt, im dritten der Begriff der Prekarisierung kritisiert. Allerdings bleibt der Zusammenhang zwischen der Selbstorganisation im Betrieb und Selbstorganisation des Widerstands vage. Dennoch sind viele der Analysen lesenswert. Denn es wird erstens deutlich, wie missverständlich es mittlerweile ist, Formen wie Scheinselbständigkeit oder Projektarbeit als „atypisch“ zu nennen, weil die sogenannten „Normalarbeitsverhältnisse“ längst die Ausnahme sind, auch unter den männlichen Facharbeitern. Und zweitens, dass kein Weg zurück in die Zeit vor der „bürgerlichen Revolution“ des Postfordismus (Meyer) führt.
Zweifelsohne befindet sich der Neoliberalismus in einer Krise. Die Zeiten, in denen er hegemonial das Denken großer Teile der Gesellschaft, keineswegs bloß der „Eliten“, bestimmte, scheinen vorbei. Die Entstehung und Etablierung der LINKEN ist nur der sinnfälligste Ausdruck hierfür.
Wenn man von neoliberaler Hegemonie, deren Krise sowie Versuchen, ein gegenhegemoniales Projekt zum Neoliberalismus aufzubauen, spricht, muss man in Rechnung stellen, was mit Hegemonie eigentlich gemeint ist. Es handelt sich hierbei keineswegs um ein reines Zwangs- oder Gewaltverhältnis. Vielmehr handelt es sich um eine Herrschaftsform, die auf der – passiven oder aktiven – Zustimmung der Mehrzahl der von ihr Unterworfenen beruht. Eine solche Zustimmung ist nur dann möglich, wenn an der realen Lebens- und Arbeitssituation der Menschen angeknüpft, ihre Erfahrungen thematisiert und ihre Bedürfnisse zumindest partiell artikuliert werden.
Fasst man nun den Neoliberalismus als eine hegemoniale Herrschaftsform auf, dann stellt sich die Frage, an welche Erfahrungen der Subjekte er anknüpfen konnte/kann, worin seine Attraktivität bestand/besteht und was dies für eine systemtransformierende Praxis sozialen Widerstands bedeutet.
Dem in der Berliner Medienwerkstatt „Die Buchmacherei“ erschienenen Sammelband „Selbstorganisation. Transformationsprozesse von Arbeit und sozialem Widerstand im neoliberalen Kapitalismus“ lassen sich wichtige Antworten auf diese Fragen entnehmen. Hervorgegangen ist der Band aus einer Veranstaltungsreihe, die das „Institut für sozialökonomische Handlungsforschung (SE-ARI)“ zwischen Herbst 2005 und Frühjahr 2006 in Bremen organisierte.
Der Zusammenhang zwischen den Beiträgen wird durch die gemeinsame Orientierung an den thematischen Eckpunkten (Wandel der) Arbeitsorganisation, der Entstehungs- und Handlungsbedingungen sozialer Bewegungen, der Subjektkonstitution sowie Selbstorganisation hergestellt. In einem ersten Block von Beiträgen geschieht dies in eher theoretischer Form, im zweiten Block mit Hilfe von Beispielen aus der sozialen Praxis. Abschließend wird mit dem Thema Prekarisierung/prekäre Arbeitsverhältnisse eine Diskussion aufgenommen, die mir für die Linke derzeit von zentraler Bedeutung scheint. Damit gelingt es den Autorinnen und Autoren, eine Vielfalt unterschiedlicher Perspektiven mit einer Kohärenz zu verknüpfen, so dass die Beiträge wechselseitig als Erläuterungen und Vertiefungen gelesen werden können.
Gemeinsam ist den Beiträgen die Orientierung an einem transformatorischen bzw. „radikalen“ Reformverständnis. „Reformen“, so die Herausgeber in der Einleitung „orientieren sich hier nicht an den von den Erfordernissen des Kapitals vorgegeben Grenzen, sondern u.a. an der Frage, inwieweit sie Bedingungen für eine Transformation der kapitalistischen Gesellschaftsformation in sich tragen und somit über die im Kapitalismus grundsätzlich zur Disposition stehenden Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen hinaus nachhaltige Veränderungen befördern“ (S. 11).
In einer aufschlussreichen Rekonstruktion der psychosozialen Folgen der (gewaltförmigen) Durchsetzung des Kapitalismus macht Holger Heide in seinem Beitrag „Angst und Kapital. Warum Widerstand im Postfordismus so schwierig ist“ einen Vorschlag, wie sich die Entstehung dieser beiden konträren Vorstellungen von Reform erklären lassen und was notwendig ist, um ein transformatorisches Reformverständnis in sozialen Bewegungen verankern zu können. Die gewaltförmige Durchsetzung des Kapitalverhältnisses habe zu einer „kollektiven Traumatisierung“ geführt, die sich in einer unbewussten „Identifikation mit dem Aggressor“, d.h. dem Kapital, äußere. Konsequenz hieraus sei eine ungerichtete Wut als Reaktion auf die verdrängte Angst auf der einen, der Verlust an den Glauben an Alternativen zum Kapitalismus als System und damit das Sich-Bescheiden auf die Beseitigung von Ungerechtigkeiten innerhalb des Systems auf der anderen Seite. Nur wenn innerhalb der sozialen Bewegungen die in jedem einzelnen sitzende Angst und Wut in einer solidarischen Anstrengung bearbeitet (durchgearbeitet) werde, könne sozialer Widerstand über das Bestehende hinausführen.
Heide macht deutlich, dass es die Subjekte sind, die den Kapitalismus durch ihr Denken und Handeln mit reproduzieren und eine Abstraktion von diesem, die einer antikapitalistischen Theorie und Praxis nicht gerecht zu werden vermag. Was dies für die Praxis sozialer Bewegungen bedeuten könnte, diskutiert er in einem weiteren Beitrag am Verhältnis von Interesse und Bedürfnis exemplarisch am
Beispiel von Genossenschaften und den „Anonymen Alkoholikern“ als organisierte Selbsthilfegruppe. Er macht zugleich klar, dass ein unvermittelter Appell an die Subjekte „aufzuhören, den Kapitalismus zu machen“ (John Holloway) wenig Aussicht auf Erfolg haben wird, wenn die Bearbeitung der Ängste nicht ein wichtiges Moment der politischen Praxis wird.
Wird die dialektische Verschränkung von Subjekt und Objekt, von Individuum und Gesellschaft bei Heide, wie auch in Michael Danners sozialphilosophischer Reflexion des sich selbst entfremdenden Selbst primär von der „subjektiven Seite“ her entwickelt, so rücken Athanasios Karathanassis und Lars Meyer die „objektiven“ polit-ökonomischen Wandlungsprozesse des Kapitalismus in den Mittelpunkt und untersuchen von dort aus, was diese für die Formierung und Beschaffenheit sozialer Bewegungen (Karathanassis) und die spezifischen Subjektivierungsformen in der Lebens- und v. a. Arbeitswelt bedeuten.
Karathanassis macht mit dem begrifflichen Instrumentarium der Regulationstheorie klar, dass die Stärke der klassischen „alten sozialen Bewegungen“ in ihren bürokratisch-großorganisatorischen Formen von Gewerkschaften und reformistischen Arbeiterparteien an einen bestimmten Entwicklungsstand des Akkumulationsregimes gebunden war und nur eine besondere Form der Regulation des Kapitalverhältnisses darstellt. Mit dem Übergang zum Postfordismus werden diese bürokratischen Großorganisationen in zweifacher Weise in Frage gestellt: Zum einen werden sie als Verhandlungspartner in einem korporatistischen „Wettbewerbsbündnis“ für die Kapitalstrategien immer entbehrlicher. Zum anderen entsprechen sie immer weniger den gewandelten Bedürfnissen der Menschen nach Autonomie und Selbstorganisation.
Die Widersprüchlichkeit der „neuen Autonomie“ in der Arbeitswelt ist Gegenstand der arbeitssoziologischen Skizze bei Lars Meyer. Diese ergibt sich seiner Ansicht nach dadurch, dass mit betriebswirtschaftlichen Konzepten der „indirekten Steuerung“ zwar den Bedürfnissen nach Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Autonomie entgegengekommen wird. Da der Rahmen, in dem diese Prozesse stattfinden, jedoch durch Imperative der Kapitalverwertung diktiert wird, komme es zu einer pathologischen Verkehrung, die sich in Selbstausbeutung, Intensivierung von Arbeit, Stress etc. äußere.
Empirisch gesättigt werden die oben skizzierten theoretischen Diskussionen durch Beispiele sozialen Widerstands, welche wiederum als Reaktion auf die sich verändernden Arbeitsorganisationen und betrieblichen Strategien gesehen werden müssen. Der Versuch der Selbstorganisation spielt hier eine wesentliche Rolle, am Beispiel der französischen SUD-Gewerkschaften, des Kampfes gegen die Einführung des CPE sowie der confédération paysanne bei Willi Hajek, ebenso wie in Inken Wanzeks Beitrag über das NCI-Netzwerk bei Siemens.
Um den Faden vom Anfang noch einmal aufzunehmen. Aus dem Buch lässt sich lernen, dass eine politische Praxis, die auf eine Überwindung der Kapitaldominanz abzielt, nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie die Wandlungsprozesse, die mit dem Neoliberalismus/ Postfordismus einher gingen, ernst nimmt, und sich fragt, inwiefern die Bedürfnisse (Autonomie, Selbstorganisation etc.), die durch diesen in pervertierter Form artikuliert werden, auf „höherer Stufe“ eingelöst werden können. Dies schließt ein Zurück zu den scheinbar „goldenen Zeiten“ des Keynesianismus, dessen ökologische und globale Kosten sowie rassistische und sexistische Ausschlussmechanismen von so manchen zur Zeit geflissentlich übersehen werden, aus. Dass die sozialen Bewegungen in diesem Transformationsprozess eine zentrale Rolle spielen (müssen), steht außer Frage. Daneben scheint mir aber auch eine Wandlung und Revitalisierung von Parteien und Gewerkschaften als Akteuren sozialen Widerstands notwendig. In welche Richtung eine solche Veränderung gehen müsste, auch dafür lassen sich dem besprochenen Buch, neben den Herausforderungen, die mit den Wandlungen des Kapitalismus für eine widerständige Theorie und Praxis einhergehen, wichtige Hinweise entnehmen. Bleibt zu hoffen, dass das unterbreitete Diskussionsangebot rege genutzt wird.“

Alexander Schlage


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