Zurück zu allen Rezensionen zu China - ein Lehrstück ...

„Vierteljahreszeitschrift für Erwachsenenbildung“ Nr.4-2009

„Ein gut lesbaren Überblick über das Projekt des chinesischen Aufbruchs“

Die Entwicklung in der Volksrepublik China ist – wie zuletzt die Buchmesse 2009 in Frankfurt gezeigt hat – eines der großen Zukunftsthemen, auf das sich das öffentliche Interesse richtet. In der Bildungsarbeit hat dies schon seit längerem seinen Niederschlag gefunden. So setzte hier etwa die Bundeszentrale für politische Bildung bei der Förderung der politischen Erwachsenenbildung in den letzten Jahren einen deutlichen Schwerpunkt, von den Landeszentralen wurden Material- und Veranstaltungsangebote entwickelt, die Akademie für politische Bildung Tutzing installierte eine Arbeitsstelle Internationale Studien mit Blick auf Asien etc.

In der inzwischen mächtig anschwellenden China-Literatur dominieren zwei problematische Tendenzen. Zum einen gibt es in der Tradition älterer Bedrohungsanalysen zum fernöstlichen Reich der „blauen Ameisen“ weltpolitisch und weltwirtschaftlich motivierte Lageeinschätzungen, die die großartigen Chancen dieses Zukunftsmarktes und seine ebenso großen Gefahren für die westliche Welt gegeneinander abwägen. Zum andern wird ein Verdammungsurteil über den Weg dieses Landes ausgesprochen, weil es seine ursprünglichen Ideale verraten habe und zur „Hölle auf Erden“, so der Titel eines chinakritischen Buchs aus der Dissidentenszene (vgl. die Vorstellung in EB 4/02), mutiert sei; eine wichtige Rolle spielt dabei auch die medienwirksame Arbeit des tibetischen Separatismus, der dem kommunistischen Reich des Bösen die Lichtgestalt des Dalai Lama entgegensetzt (vgl. die Rezensionen in EB 1/00 oder 3/08).

Beiden Sichtweisen ist es nicht um eine sachgerechte Beurteilung des Landes zu tun. Eine konsequente Kritik solcher Voreingenommenheit bietet jetzt das Buch der Journalistin und Politikwissenschaftlerin Renate Dillmann. Sie setzt sich nicht nur mit den alten und neuen Liebhabern des chinesischen Weges auseinander, mit den verdrossenen oder unverdrossenen Bewunderern einer (anti-)imperialistischen Karriere, die als Ausnahmefall einem Land der „Dritten Welt“ (der Terminus stammt übrigens aus der Mao-Ära) gelang, sondern liefert in der Hauptsache einen klar strukturierten und gut lesbaren Überblick über das Projekt des chinesischen Aufbruchs – von den Zeiten des europäischen Imperialismus, der, gerade auch unter deutscher Mitwirkung, das Land brutal für die koloniale Ausnutzung „erschloss“, über die nationale Emanzipationsbewegung der Mao-Zeit und ihre rücksichtslosen Aufbau-Experimente (Teil I) bis zu der „Wende“ der 1970er Jahre und der folgenden Übernahme marktwirtschaftlicher Erfolgsrezepte, die das Land im Jahr 2009 zu einem entscheidenden Akteur in Sachen Weltmarkt und Weltpolitik machen (Teil II).

Das stilistisch herausragende Merkmal des Buches ist es, in chronologischer Abfolge beschreibende und erklärende Elemente so zu verbinden, dass der Leser auch ohne größere Vorkenntnisse die einzigartige Geschichte des Landes durchdringt und gewissermaßen spielerisch Grundeinsichten gewinnt, die über das Verständnis der Volksrepublik weit hinausreichen. Besonders die Kapitel zu Kolonialismus, Realem Sozialismus und seinen Widersprüchen, der Geburt einer kapitalistischen Gesellschaft und den damit verbundenen Konsequenzen von Umweltzerstörung über Armut und Konkurrenz bis hin zu Militarismus und sich verschärfenden Gegensätzen auf der internationalen Bühne machen die Lektüre zum wahren Lehrstück. Zahlreiche Kästen mit Quellen, Dokumenten und Illustrationen sowie eine umfangreiche Materialsammlung auf der beigefügten CD regen zur selbständigen Urteilsbildung an, erlauben aber auch die Verwendung als Lehrmaterial.

Politisch und wissenschaftlich liegt das Verdienst der Autorin in der Auseinandersetzung mit der Frage von Kommunismus und Nation. Zunächst auf relativ hohem Abstraktionsniveau durchdacht, wird diese für die gesamte Geschichte der Arbeiterbewegung relevante Frage anhand verschiedener Phasen näher untersucht. Dillmann kommt zu dem Ergebnis, dass im „nationalen Denken“ ein, wenn nicht der entscheidende Erklärungsschlüssel für Maos Politik und deren scheinbar unerklärliche Wendungen und Entgleisungen bis hin zur Abkehr vom Sozialismus liegt. Ähnliches Neuland betritt die Autorin mit der Analyse des politischen Systems des heutigen China. Gegen die landläufigen Negativurteile der Politikwissenschaft, denen zufolge Chinas Politik vor sämtlichen Maßstäben unserer Demokratie und Rechtstaatlichkeit „versagt“, aber auch gegen den Formalismus der Internationalen Politik, die meist zur puren Institutionenkunde verkommt, werden die inhaltliche Agenda des modernen chinesischen Systems und die Methoden ihrer Umsetzung vorgestellt. Zu guter letzt gelingt es der Autorin auch noch, das politische Bewusstsein der Menschen zu erklären, die sich in der wendungsreichen Geschichte und Gegenwart der Nation mit so manchem Widerspruch herumschlagen müssen. Dass dabei Presse, Öffentlichkeit und politisches Bewusstsein des Westens nicht unkritisiert bleiben, versteht sich von selbst.

Dillmann ist das Kunststück gelungen, sowohl die sozialistische wie die marktwirtschaftliche Etappe der VR zu verstehen und zu erklären, ohne innerhalb der vorgefundenen Gegensätze zwischen China und dem Westen, zwischen Mao und Deng, zwischen Sozialismus und Kapitalismus usw. moralisch Partei zu ergreifen. Aus ihrer gut nachvollziehbaren Analyse entwickelt die Autorin eine eigene Position, die sich „quer“ stellt – auch zur restlichen China-Literatur!

Arian Schiffer-Nasserie


Zurück zu allen Rezensionen zu China - ein Lehrstück ...