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„vorwärts“ (Schweiz) vom 28.3.2020

… eine Suche nach neuen kollektiven Protestformen

Über die französische Gelbwestenbewegung sind in den letzten Monaten einige Bücher erschienen. Doch der im Verlag «Die Buchmacherei» erschienene Sammelband mit dem Titel «Gelb ist das neue Rot» liefert einige neue Aspekte. Das ist dem Herausgeber Willi Hajek zu verdanken.


Willi Hajek lebt seit einigen Jahren in Marseille und steht mit basisgewerkschaftlichen Zusammenhängen in verschiedenen Ländern in regen Austausch. In Frankreich hat Hajek gute Kontakt zu Aktivist*innen der Gelbwesten und der Gewerkschaften. Die zehn Aufsätze drehen sich um das durchaus spannungsgeladene Verhältnis zwischen.…

.…. ihnen. «In unserem Sammelband haben wir Artikel gesammelt, wie überraschend diese Bewegung auftauchte und wie verwirrt manche streikerfahrenen GewerkschafterInnen und linken AktivistInnen anfangs reagierten», schreibt Hajek in der Einleitung. Es wird auch verständlich, warum es in den letzten Monaten eine stärkere Kooperation zwischen beiden Bewegungen gegeben hat.

Die Vorgeschichte
Willi Hajek erinnert an die jüngere Geschichte der sozialen Proteste in Frankreich, die erklären, warum die Gelbwestenbewegung entstand und über längere Zeit das innenpolitische Leben Frankreichs prägte. Da wären die grossen Streiks im Jahr 1995 zu nennen, die Frankreich über Wochen beschäftigten. 2016 haben die Platzbesetzungen der Bewegung auch über Frankreich hinaus für kurze Aufmerksamkeit gesorgt. Sehr wichtig war aber auch der Alltagswiderstand, der kaum für Schlagzeilen sorgt und nur Menschen bekannt ist, die sich – wie der Herausgeber – in den sozialen Bewegungen bewegen. So weist Hajek auf den Kampf der Elektriker*innen der staatlichen Strom- und Gasversorgung EDF und GDF in er Region Midi-Pyrénées hin, die über den gewerkschaftlichen Kampf hinaus auch solidarisch mit Menschen waren, denen der Strom abgestellt wurde. «Sie führten einen entschiedenen gewerkschaftlichen Kampf gegen die Auslagerung ihrer Montagetätigkeit als Teil der geplanten Privatisierung im öffentlichen Dienst und waren bisher auch erfolgreich. Gleichzeitig bildeten sie das Kollektiv Robin du Bois, das verarmten Haushalten wieder Strom anschliesst».
Hajek nennt auch Fabienne Brutus, die Leiterin eines Arbeitsamts in Frankreich, die sich in einer Erklärung geweigert hat, Erwerbslose zu sanktionieren. «Wir sind mit den Arbeitssuchenden solidarisch. Wir weigern uns, falsche Zahlen, unlautere Angebote und sinnlose Unterhaltungen zu produzieren und wir werden unsere beruflichen Praktiken dazu einsetzen, den Nutzern unserer Dienste zu helfen, im vollen Respekt ihrer bürgerlichen Rechte», wird in dem Buch aus der von Brutus mitverfassten Erklärung zitiert, die viel Aufmerksamkeit bekommen hat.

Lebendige Aktionen
Hingewiesen wird in dem Buch auch auf Texte wie «Der kommende Aufstand» aus dem anarchistischen Spektrum und den zivilgesellschaftlichen Text «Empört Euch» von Stefan Hessel. Sie wurden ausserhalb Frankreichs vor allem im Feuilleton linksliberaler Medien eifrig diskutiert. Aktionen wie «Nuit Debout» wurden ebenso wie die Gelbwestenbewegung in der ausserparlamentarischen Linken diskutiert, soziologisch analysiert, bis man sich das nächste Protestphänomen zuwendet.
Die Stärke der von Hajek herausgegebenen Texte besteht darin, dass sie keine Sicht von ausserhalb der Bewegung sind. Alle Autor*innen sind an der Basis von Gewerkschaften aktiv und haben sich sehr früh an den Protesten der Gelbwesten beteiligt. Sie beschreiben auch sehr gut, warum das Verhältnis zwischen beiden so schwierig war und teilweise immer noch ist. Dabei wird schnell klar, wenn sie auch Verhältnisse aus Frankreich beschreiben, gilt vieles gleichermassen für die Verhältnisse in vielen anderen Ländern. Da geht es um Gewerkschaftsdemonstrationen, die so berechenbar wie harmlos sind. Polizei ist kaum zu sehen, aber auch wenig junge Menschen. Es sprüht kein Funke der Rebellion über, die Demonstrant*innen machen nicht den Eindruck, dass ihnen ihre Aktivitäten Spass machen. Dagegen werden Aktionen der Gelbwesten geschrieben, die trotz der ständigen Polizeirepression im wahrsten Sinne des Wortes sehr lebendig sind.

Kollektive Protestform
Auf den besetzen Verkehrskreisel, auf denen sich die Aktivist*innen sammelten, wurde Ball gespielt und getanzt. Die Protestierenden diskutierten auch in den langen Abenden an der Feuertonne über ihr Leben und über ihre Sicht auf die Welt. Da wird beschrieben, wie Menschen, die konservativ wählten und die Bewohner*innen in den Banlieus, den Vororten der französischen Grossstädten, verachteten, völlig neue Erkenntnisse bekamen. Sie erklären, dass sie bei den Protesten der Polizeigewalt ausgesetzt sind, wie sie in den Banlieus alltäglich ist. Auf dieser Grundlage beteiligten sich Banlieu-Aktivist*innen, die Gerechtigkeit für von Polizeikugeln getötete Jugendliche fordern, an den Gelbwestenprotesten.
Mehrere der Basisgewerkschafter*innen sehen in der Gelbwestenbewegung eine Suche nach neuen kollektiven Protestformen, nachdem die Arbeitsverhältnisse immer individualisierter werden und die Zeiten der Grossfabriken mit ihren starken Betriebsgewerkschaften der Vergangenheit angehören. Darauf bezieht sich auch der Titel des Buches, der bei Veranstaltungen zu heftigen Diskussionen führte. Er soll vor allem ausdrücken, dass die Gewerkschaften von der Unberechenbarkeit und Radikalität der Gelbwestenbewegung angesteckt werden müssen, um wieder auch für jüngere Menschen attraktiv zu werden.

Vorurteil abgebaut
In dem Buch wird der Stand der Bewegung im Januar 2020 festgehalten, als das geschah. Es war die Zeit der grossen Streiks gegen die Rentenreform der Macron-Regierung. In diesen konkreten Kämpfen auf der Strasse kamen die Basisgewerkschaften und die Gelbwesten zusammen. Die häufig theoretisch ge-forderte Kooperation der beiden Bewegungen kann eben nur in diesen konkreten Auseinandersetzungen hergestellt werden. Im Buch beschreiben die Gesprächspartner*innen sehr gut, wie genau hier das Trennende zwar nicht verschwunden ist, so doch nicht mehr die dominierende Rolle gespielt hat. Viele langjährige Gewerkschafter*innen erkannten, dass die Gelbwestenbewegung mehrheitlich nicht rechts und kleinbürgerlich war, wie sie es am Anfang einschätzen. Andererseits erkannten Aktive der Gelbwesten, dass gerade in Frankreich längst nicht alle Gewerkschaften Teil des politischen Systems sind. Dieser Vorwurf war vor allem am Beginn der Gelbwestenbewegung häufig zu hören und erschwerte eine Kooperation sehr stark. Nachdem Marcron mit massiver Polizeigewalt und parlamentarischen Tricks einen grossen Teil der sogenannten Rentenreformen verabschiedet hat, muss sich jetzt zeigen, ob es gelingt, den Sprung von der Protestbewegung zu einer handlungsfähigen linken Opposition zu schaffen, in der Basisgewerkschafter*innen und Gelbwesten ihren Platz haben.
Es wäre zu wünschen, dass Willy Hajek diese weitere Geschichte der ausserparlamentarischen Be-wegung in Frankreich in weiteren Bücher ebenso locker und informativ vermittelt, wie es ihm das mit «Gelb ist das neue Rot» gelungen ist.

Peter Nowak


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