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„wildcat“, Ausgabe Nummer 75 (Winter 2005/06)
„… immer noch Gänsehaut“
“ auch das Buch Sechs Tage der Selbstermächtigung möchte die Diskussion um den „weiteren Weg des sozialen Widerstands“ (Nachwort S. 223) voran bringen.
Der wilde Streik bei Opel in Bochum war der bisherige Höhepunkt der gesellschaftlichen Mobilisierungen seit 2003/2004 in der BRD und markierte die unübersehbare Rückkehr des Klassenkampfs. Wir hatten in zwei Artikeln (wildcat 72 und 73) versucht, die innere Dynamik des Kampfs vor dem Hintergrund der Überakkumulationskrise der Autoindustrie zu diskutieren. Wer hat wie gekämpft, welche Diskussions- und Organisierungsstrukturen sind darin entstanden?
Die nächsten Auseinandersetzungen werden nicht lange auf sich warten lassen, die Krise der großen Konzerne ist viel zu dramatisch, als dass sie sich Zeit lassen könnten, die ArbeiterInnen materiell zu spalten und ideologisch auszuhungern. Die Insolvenz des General Motor-Zulieferers Delphi ist die größte Pleite in der Automobilgeschichte, Lohnkürzungen bis 60 Prozent und Werkschließungen (auch in Deutschland sollen zwei Werke dicht gemacht werden) könnten einen Streik provozieren, der wiederum den weltgrößten Automobilkonzern GM selbst in den Ruin treiben würde. In Finanzkreisen werden auch Ford und DaimlerChrysler als Wackelkandidaten betrachtet. Trotz „Beschäftigungssicherungsverträgen“ werden also weitere, noch dramatischere Einschnitten kommen.
Und da könnten die Erfahrungen der Opel-ArbeiterInnen wichtig werden. Das Buch liefert eine ausführliche Innenansicht des wilden Streiks und seiner Vorgeschichte. Die Herausgeber betten dies in die Gruppengeschichte der GOG (Gegenwehr ohne Grenzen, ursprünglich „Gruppe oppositioneller Gewerkschafter“) ein und haben dazu mehrere Gespräche mit deren Aktivisten geführt, was einen Großteil des Buches ausmacht.
„… wenn man bedenkt, dass die Gruppe sich 1972 gegründet hat und besteht bis zum heutigen Tage! Das ist doch ohne Beispiel, dass die Leute auch noch nach Jahrzehnten in einer Gruppe zusammenhocken und gewisse Dinge diskutieren. Aber man vermisst Jugendliche, die reinkommen, mit neuen Ideen, neuen Schwüngen…“ (S. 55)
In den Gesprächen und Interviews mit GOG-AktivistInnen kommen Lehrlings- und Antivietnambewegung, K-Gruppen und Juso-Politik zur Sprache, und es entsteht ein lebendiges Bild des sozialen Alltags in der Fabrik und der Betriebsarbeit. Die sich kontinuierlich von den aufwühlenden 70ern, über Terrorismushetze, unternehmerische und gewerkschaftliche „Kalte-Kriegs-Politik“ bis zu den heutigen „Standortsicherungen“ zieht. Am spannendsten sind die Abschnitte, in denen die Arbeiteraktivisten ihre eigene „Selbstermächtigung“ als kollektiven Lern- und Selbstschulungsprozess beschreiben:
„Schon damals haben wir Versammlungen gemacht. Und es wurde viel diskutiert. Aber ich habe nicht den Mumm gehabt da aufzutreten. Ich habe da kein Wort rausgekriegt … Und dann gab es bei Opel diese Infostunden. Die haben mir eigentlich geholfen. Da sind so 60 Mann, es gibt eine Mikrophonanlage und man muss nach vorne gehen. 1991, 92 war es das erste Mal und ich habe mir gesagt: Wenn du jetzt nicht gehst, dann gehst du nie wieder. So hat sich das entwickelt. Einmal habe ich den Jaszcyk [ehemaliger BR Vorsitzender und DKPist] richtig fertig gemacht. Und heute lassen wir uns nichts mehr sagen. Das hat vielen Leuten Selbstbewusstsein gegeben. Die Infostunden haben wir damals eingetauscht gegen Betriebsversammlungen. Die Infostunden waren schon ein guter Nährboden, um SelbstbewusstseAin zu fördern.“ (S. 51)
Aus den Interviews wird auch sichtbar, wie die Gruppe über die enge Betriebspolitik und die Frage von politischen Erfolgen und Misserfolgen hinaus das ganze Leben der Aktivisten geprägt hat:
„Ich habe die Gruppe als unheimliche Bereicherung empfunden. Da sind ja tolle Dinge gelaufen: z. B. Auslandsreisen… […] dieses geschärfte Bewusstsein für politische Abläufe, das geht einem nie wieder verloren. […] das finde ich unheimlich wichtig, egal in welcher Form auch immer, wenn junge Leute bereit wären, sich mal irgendwo zusammenzutun und einfach nur die Zeit und die Kraft aufwenden würden über grundlegende Dinge, die alle betreffen, zu diskutieren. Es muss nicht immer die Lösung herauskommen, die haben wir ja auch nicht gefunden.“ (S. 63)
Die GOG setzte sich kontinuierlich mit ihrer Position zur Gewerkschaft und ihren Institutionen auseinander. Dazu war sie auch gezwungen, denn die IGM konfrontierte sie immer wieder mit Ausschlüssen und Funktionsverboten. So durchzieht dieses Thema das Buch als roter Faden.Vorangestellt wird ein Artikel zu den wilden Streiks der 50er und 60er Jahre. Die Dissertationsvorarbeit von Peter Birke (Gruppe Blauer Montag Hamburg) enthält interessante Hinweise auf längst vergessene Kämpfe und relativiert das Bild einer Klasse in Nachkriegsstarre, die erst durch die 68er Bewegung aufgerüttelt worden wäre. Doch er bleibt etwas unvermittelt und so wird die Chance vertan, die materielle Sprengkraft der wilden Streiks, ihre Eigendynamik und Qualität der Selbstorganisierung von der bloßen Verlängerung (radikal-, links-, alternativ-, basis-) gewerkschaftlicher Betriebsarbeit abzugrenzen. Dies hätte die Auseinandersetzung um die „Gewerkschaftsfrage“ erden können, die nun etwas ermüdet daherkommt. Manni Strobels Plädoyer für die Selbstorganisierung der ArbeiterInnen bleibt isoliert und verschroben: „Ich sage zerstören, weil sonst immer noch die Vorstellung mitschwingt, man könne diesen Apparat [die Gewerkschaft] reformieren, umkrempeln oder sich irgendwie nützlich machen.“ (S. 155). Dies widerspricht offensichtlich zu sehr der Intention der Herausgeber: „Unser Buch versteht sich als Anregung für alle, die diese Schwäche erkennen und darüber nachdenken, wie wir handlungsfähige gewerkschaftliche Basisstrukturen schaffen können …“ (Nachwort S. 223)
Erfrischend sind dagegen die verstreuten Innenansichten aus dem „wilden Oktober“ 2004:
„… schlafen konnte man sowieso nicht. Da ist man auch schon mal nachts aufgestanden und ist um 3 Uhr da runter gefahren. Auch Samstag und Sonntag. Das war schon Wahnsinn. Was ich da so auf dem E-Wagen gesehen habe in den ersten Tagen, das sah so aus, als ob die Revolution stattfinden würde.“ (S. 113)
„Das war wie im Rausch. Die Belegschaft hat bestimmt, so wie es sein sollte. Wir haben da gestanden. Die einen haben Flugblätter auf Leinen gespannt. Es gab Kultur. Jeder konnte Ada reingehen und mitbestimmen, was machen wir jetzt? Die einen haben Flugblätter in der Einlaufzone verteilt, die anderen haben Kaffee gekocht. Das war echt Wahnsinn, was da abgelaufen ist.“ (S. 83)
War das wirklich der letzte Rausch? Oder wird es Ende März 2006 noch einmal spannend – wie Manni Strobel es andeutet -, falls die erzwungenen „Freiwilligen“ nicht zusammen kommen und betriebsbedingte Kündigungen anstehen? Besteht die Möglichkeit, dass zukünftige Kämpfe über Abwehrkämpfe hinausgehen und offensiv werden? Wo und wie kann eine solche Macht entstehen? Diese Fragen stehen nicht im Zentrum des Buches. Es ist zwar häufig von „Perspektive“ die Rede, doch bleibt dies sehr abstrakt. Das mag mit der Auswahl der Gesprächspartner und der jetzigen Gruppenstruktur der GOG zu tun haben. Viele haben nach jahrzehntelanger betrieblicher Wühlarbeit das Werk altersbedingt verlassen, einer mit der hohen Abfindung, die nach dem Streik geboten wurde. Doch auch, wenn die eigene politische Arbeit sich verstärkt an den Sozialforen orientiert, bleibt die jahrzehntelange Betriebserfahrung, so dass Wolfgang Schaumberg diese abstrakte „Perspektivsuche“ kritisieren kann: „Auch sind die Vorstellungen von einem anderen Leben in einer ›anderen Welt‹sehr geprägt von Nischen-Träumen, die die Hoffnung auf die Erkämpfung eines erträglichen und schönen Lebens abseits einer auf Verwertung und Tausch ausgerichteten Produktion nähren. Dies ist womöglich noch mit der Vorstellung verbunden, es ließe sich mit der Organisation des Lebens abseits des Produktionsprozesses (oft ›Erwerbsarbeit‹ genannt) ein solch zersetzender gesellschaftlicher Prozess entwickeln, dass der Kapitalismus damit abgeschafft werden könnte.“ (S. 168)
Für die Diskussion innerhalb der GOG ist die Situation im Werk immer noch sehr vom gebrochenen wilden Streik und der Spaltung durch die hohen Abfindungen geprägt, was einen offenen Blick nach vorn schwierig macht. Auch wird bis auf einen kurzen Beitrag nicht auf die laufenden Auseinandersetzungen bei Ford, VW, DaimlerChrysler usw. eingegangen. Die aktuelle politische Diskussion bleibt im Buch also etwas unterbelichtet. Dafür gelingt es ihm im Blick zurück aber ausgezeichnet, anhand der Geschichte der GOG im Bochumer Opelwerk beispielhaft eine Klassengeschichte der Autoindustrie in der BRD zu erzählen.
Zu erwähnen bleibt noch der günstige Preis von 10 Euro, welcher hoffentlich zu einer starken Verbreitung beträgt.
gr
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