Medienkritik zu "Die Wiener Julirevolte"
Zurück zum Produkt„SoZ“ November 2017
Die schriftstellerische Wucht der Schilderung ist enorm
Vor 90 Jahren, im Juli 1922 brannte in Wien der Justizpalast – nicht das Werk eines Provokateurs, auch nicht eines einsamen Kämpfers gegen eine heraufziehende Diktatur, sondern das Werk von Hunderten und Tausenden aufs höchste erregter Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich gegen Polizeiwillkür und Klassenjustiz auflehnten.
Ende Januar nämlich waren in Schattendorf, an der Grenze zu Ungarn, ein Mitglied des Schutzbunds, der Selbstverteidigungsorganisation der SPÖ und ein sechsjähriges Kind von drei Mitgliederri der rechtsextremen Frontkämpfervereinigung erschossen worden, während die Partei eine Saalversammlung durchführte, die der Schutzbund vor den Angriffen der Frontkämpfer schützen sollte.
Am 14. Juli wurden die Täter wegen angeblicher Notwehrfreigesprochen, am Tag darauf stand Wien still: der Direktor der Elektrizitätswerke hatten den Strom abgestellt, der öffentlicheVerkehr war lahmgelegt, die Elektrizitätswerker versuchten, das Hauptgebäude der Universität zu stürmen, andere Demonstranten griffen eine Polizeiwache und das Redaktionsgebäude der Wiener Neuesten Nachrichten an, die das Urteil gerechtfertigt hatten, schließlich sammelte sich eine Menge vor dem unbewachten Justizpalast. Er wurde gestürmt, Akten vernichtet, Feuer gelegt. Was dann folgte, war entfesselte blinde Polizeigewalt, die hasserfüllt alles erschoss und niederprügelte, was sie in die Finger kriegen konnte. Die Bilanz waren fast hundert Tote, ganz überwiegend auf der Seite der Demonstranten, und Hunderte Verletzte.
Die politische Bilanz war noch verheerender. Die in Wien regierende SPÖ hatte sich unfähig gezeigt, die Menge vor der Polizeigewalt zu schützen, der Schutzbund, obgleich im Besitz von Waffen, durfte diese nicht herausrücken und stand der Polizei wehrlos gegenüber. Die gehorchte dem reaktionären Polizeipräsidenten Schober und nicht der Partei, obwohl die sozialdemokratische Gewerkschaft bei der Polizei bei der Vertrauensmännerwahl im März zu vier Fünftel sozialdemokratisch gestimmt hatte. Zudem war der Schutzbund gespalten, ein Teil stellte sich gegen die Menge, andere versuchten, sie zu schützen, die Parteiführung versuchte zu verhandeln und zu beschwichtigen, wo es nichts mehr zu verhandeln gab. Die reaktionäre Bundesregierung sah die Chance gekommen, der Arbeiterbewegung eine empfindliche Niederlage beizubringen, und nutzte sie. Der 15.Juli ist in der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung als der Wendepunkt der Ersten Republik eingegangen, der die Niederlage des Arbeiteraufstands
von 1934 vorbereitet hat.
Es gibt über diesen dramatischen Tag einen nicht weniger dramatischen Bericht von Rudolf Geist, einem jungen, überaus talentierten Schriftsteller aus dem ländlichen Arbeitermilieu, der die Ereignisse als Augenzeuge miwerfolgt hat. Seine pazifistische und demokratische Gesinnung bezahlte er mit 15 Monaten Gefängnis und einer weitgehenden Achtung seiner Schriften, die bis heute nur einem kleinen Publikum, in Deutschland so gut wie gar nicht, bekannt sind Dieter Braeg hat die beiden Augenzeugenberichte von Rudolf Geist – über die Morde in Schattendorf wie auch über den l5. Juli in Wien – nun in einer kleinen Broschüre veröffentlicht, zusammen mit einem Gedicht von Johannes R. Becher und Kommentaren aus der damaligenTagespresse. Die Zusammenstellung vermittelt einen lebhaften Eindruck von den damaligen Verhältnissen, der Herausgeber zieht auch ausdrücklich eine Verbindung zum Auftreten
der Polizei beim G20-Gipfel in Hamburg. Die schriftstellerische Wucht der Schilderung ist enorm, und die kleine Broschüre bietet dem Leser aus Deutschland nicht nur Nachhilfeunterricht in der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung, sondern so ganz nebenbei auch Einblicke in die österreichische Arbeiterliteratur. Für 7 Euro ist die Broschüre bei der Buchmacherei zu haben. Eine spannende Lektüre!
Angela Klein
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