Medienkritik zu "Sterben und sterben lassen"
Zurück zum Produkt„Graswurzelrevolution“, 29.10.2024
Ein Buch für alle Antimilitarist:innen
Sterben und sterben lassen – Der Ukrainekrieg als Klassenkonflikt
von Barbara Renz
38 Delegierte sozialistischer Gruppen und auch einige Anarchisten fuhren am 5. September 1915 in vier Kutschen als Vogelkundler getarnt zur Pension „Beau Sejour“ in Zimmerwald im Berner Mittelland. Sie standen nicht für die „nationale Solidarität mit der Ausbeuterklasse, sondern auf dem Boden der internationalen Solidarität des Proletariats und des Klassenkampfes“, wandten sich gegen die Unterstützung der Kriegsführung des Ersten Weltkriegs durch die sozialistischen Parteien und Arbeiterorganisationen und riefen auf, das „Ringen um den Frieden aufzunehmen“, sich nicht mehr in den „Dienst der herrschenden Klassen“ zu stellen, sondern für die „Ziele des Sozialismus, für die Erlösung der unterdrückten Völker wie der geknechteten Klassen einzutreten durch den unversöhnlichen proletarischen Klassenkampf“. Es war der Anfang einer antimilitaristischen Wende in der Arbeiterbewegung, die mit der Revolution in Russland 1917 und der Revolution in Deutschland 1918 tatsächlich den Weltkrieg beendete. Es war also der Anfang der erfolgreichsten Friedensbewegung aller Zeiten.
An diesen Appell für den Frieden wollen die nicht als Vogelkundler, sondern als „AK Beau Sejour“ getarnten Herausgeber des im September 2024 erschienenen Buches „Sterben und Sterben lassen“ anknüpfen. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine waren, so stellen sie im Vorwort fest, „der Militarismus und der Ruf nach Aufrüstung (…) plötzlich nicht mehr die Sache der politischen Rechten, sondern fanden ihre mitunter vehementen Fürsprecher in linken und linksliberalen Milieus, wo die Remilitarisierung der Deutschen offen zur antifaschistischen Pflicht erklärt wurde. (…) Dieser neue progressive Militarismus befiel selbst Teile der sozialistischen, anarchistischen und autonomen Linken.“
Der Band richtet sich „an alle Antimilitarist:innen, die gegenwärtig wohl leider ebenso minoritär sind, wie die sozialistische Kriegsgegner“, die sich 1915 in Zimmerwald trafen. Das Wort „ebenso“ dürfte es nicht ganz treffen.
Genauso wie die Kriegsgegner 1915 in Zimmerwald, liegen die Beiträge des Bandes keineswegs auf einer Linie. Es geht richtig gut los. Den Anfang machen Interviews und Artikel mit Kriegsgegner:innen aus der Ukraine und Russland, die dem von ukrainischen Gruppen auch in linken Publikationen verbreiteten Narrativ des „antiimperialistischen Volkskrieges“ entgegentreten. Ein Informatikstudent aus dem westukrainischen Lemberg, der sich dem Kriegsdienst in der Ukraine entzogen hat, deshalb in der Ukraine untertauchen musste, bevor ihm die Flucht ins Ausland gelang, schildert anschaulich die Zeit der russischen Invasion und plädiert für die Unterstützung von „Massendesertionen und Meuterei auf beiden Seiten“. Die anarchistische Gruppe Assembly aus Charkiw, die wegen der Repression des Staates fast vollständig klandestin und online arbeiten muss, schildert den bedrückenden Alltag in der Frontstadt mit einst mehreren Millionen Einwohner:innen. „Mittlerweile ist der durchschnittliche Bewohner so ca. 50 Jahre alt. Schaut man sich unsere öffentlichen Plätze an, so fällt auf, dass kaum Männer im wehrfähigen Alter unterwegs sind. Es herrschen Depression, Alkoholismus und totale Traurigkeit.“
„Wir versuchen aufzuzeigen, dass die Desertion eine bewusste politische Position ist, die sich verweigert für die Villen und Yachten anderer zu töten und zu sterben“, wobei sie explizit auch russische Soldaten zur Desertion aufrufen. Der Beitrag der „Arbeiterfront der Ukraine“ liest sich freilich wie ein MLPD-Flugblatt und der Artikel von Maxim Goldarb von der Union der Linken Kräfte aus der Ukraine ist vor allem wegen der Darstellung der politischen Repression in der Ukraine von Interesse.
Neben diesen Stimmen aus Russland und der Ukraine gibt es einen lesenswerten Text von Axel Berger zur Geschichte der Zimmerwalder Linken und anschließend beschreibt der omnipräsente Peter Nowak, wie (fast) immer verlässlich, theoretische und praktische Ansatzpunkte des Antimilitarismus in Europa, etwa die Proteste der italienischen Basisgewerkschaft USB gleich nach Kriegsbeginn.
Unter den weiteren Beiträgen sind der von Ewgenyi Kasakow über die russische Opposition, das Interview mit Felix Laitner zur Restauration des Kapitalismus in Russland und ganz besonders der Beitrag der britischen Gruppe „critisticuffs“ hervorzuheben. Ausgehend von den Auseinandersetzungen der Friedensbewegung in UK arbeitet die Gruppe „critisticuffs“ die strategischen Hintergründe der Konfrontation heraus: „Für Russland und die USA geht es um alles.“
Nach einer quellenreichen Analyse der Atomwaffenstrategien beider Seiten, wie ich sie seit der Friedensbewegung der 80er Jahre, als das Wissen um NATO Strategien wie „Airland-battle 2000“ Allgemeingut war, selten gelesen habe, kommen sie zu dem Schluss: „Für Russland und die USA steht auf dem Spiel, was sie als Nationen sind und zu sein beanspruchen. Für die eine Seite ihr Status als Großmacht und geachtetes Mitglied der Staatenwelt, für die andere Seite ihre konkurrenzlose Stärke und uneingeschränkte Weltherrschaft.”
Leider fallen demgegenüber die Beiträge von Aaron Eckstein/Ruth Jackson von der Internetzeitung „communaut“ deutlich ab. Den Mangel an konkreter Analyse wollen sie durch ein Übermaß an „Einschätzungen“ des „geopolitischen Kontextes“ ausgleichen, dessen Substanzarmut durch den Vergleich mit dem Beitrag der „critisticuffs“ ins Auge fällt. Gleiches gilt, wenn Klaus Dallmer unter der neugierig machenden Überschrift „Was treibt die Linke in die Arme ukrainischer Nationalisten“ das Verhältnis Deutschlands zu den USA als „Vassallensystem“ bezeichnet und beklagt, dass Sahra Wagenknecht und Sevim Dağdelen in der Linkspartei auf wütende Proteste stoßen. Da hätte man dem Autor doch besser Gelegenheit gegeben, seinen aus dem Oktober 2022 stammenden Beitrag zu überarbeiten. Der Beitrag von Rainer Zilkenat zur Ukraine-Politik des Deutschen Reiches ist zwar interessant, man wird freilich den Verdacht nicht ganz los, dass nicht nur eine historische Kontinuität der Kriegsgegner, sondern so etwas wie eine historische Kontinuität des Imperialismus beschworen werden soll. Dabei hat die „Europäischen Friedensordnung“ von heute, also der Imperialismus des 21. Jahrhunderts nur noch sehr wenig mit dem Imperialismus am Anfang des 20. Jahrhunderts zu tun. Konkrete Analysen insoweit fehlen in dem Band freilich, vom Beitrag der Gruppe „critisticuffs“ abgesehen.
Die Schwächen des Buches ändern aber nichts daran, dass es ein wichtiger und überfälliger Aufschlag für eine linke antimilitaristische Debatte ist. Denn Zimmerwald erinnert daran, dass der Kampf gegen den Krieg ohne den Kampf gegen den Kapitalismus nicht zu haben ist und damit etwas grundlegend anderes ist, als auf Friedenskundgebungen die regierenden Politiker:innen daran zu erinnern, was ihre „Pflicht“ ist und diejenigen zu beklatschen, die gerne regieren wollen.
Auch wenn eine neue Zimmerwalder Linke wohl jenseits jeder Vorstellungskraft und Phantasie liegt, die Vorschläge der Konföderation der revolutionären Anarchosyndikalisten aus Russland klingen gut:
„1. Nicht mit den Wölfen heulen, keine Unterstützung der Staaten, des Krieges der Nationalismen, jeglicher Einheit der Nation und der Klassenkollaboration.
2. Reale Kriegsgründe erklären, es ist revolutionär die Wahrheit zu sagen.
3. Praktische Aktivitäten gegen den Krieg entwickeln, wie klein diese auch sein können, Propaganda, Sabotage des Krieges und der Armeemobilisierung, praktische Solidarität mit Deserteuren, Kriegsverweigerern usw.
4. Partizipation (mit eigener Position) in den konkreten Klassenkonflikten, sozialen Kämpfen….”.
Die 208 Seiten sind eng bedruckt, die 15 Euro gut angelegt.
„nd“, 18.10.2024
Ukraine-Krieg: Für ein zweites Zimmerwald
Die kleine Buchmacherei hat ein fulminantes Buch über Ukraine-Krieg und Antimilitarismus veröffentlicht
von Raul Zelik
Zu den größten Tragödien des 20. Jahrhunderts gehört bekanntlich das fatale Scheitern der europäischen Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Der Internationale nur noch in Form von Liedgut verpflichtet, reihten sich die europäischen Mehrheitssozialist*innen 1914 in die Reihen ihres jeweiligen Nationalimperialismus ein und ließen sich widerstandslos in Schützengräben abschlachten. Als Begründung wurde angeführt: Der rückständige russische Zarismus / das arrogante englische Empire / Preußens abscheulicher Militarismus stelle eine Bedrohung für die Zivilisation dar, weshalb man sich bei der Verteidigung der eigenen Nation für den Fortschritt engagieren müsse. Auf diese verheerende Fehleinschätzung folgten neun Millionen Tote, der Siegeszug des Faschismus und ein zweiter, noch fürchterlicherer Krieg.
Heute hat man den Eindruck, große Teile der deutschen Linken wollten dieses Debakel nachspielen – als tragische Farce. Während die einen sich Putins kriegskapitalistisches Russland schönreden, indem sie auf die lange Liste US-amerikanischer Staatsverbrechen verweisen, haben sich die anderen ein politisches Märchen zusammengedichtet, dem zufolge die Demokratie mithilfe von Nato, Bundeswehr und Rheinmetall gegen den Autoritarismus verteidigt werden müsse.
Vor allem die zweite Position treibt im »progressiven Lager« der deutschen Gesellschaft die bizarrsten Blüten. Grünen-Wähler*innen meinen, mit Rüstungsmilliarden den Feminismus zu stärken. Antideutsche, die es sich beim Springer-Konzern oder im Staatsapparat gemütlich gemacht haben, fordern bei jeder Gelegenheit die Einrichtung von Flugverbotszonen (es sei denn, eine solche Zone könnte dem Schutz von Israels Nachbarländern dienen). Und Vertreter*innen der sogenannten Progressiven Linken, einer Strömung in der Linkspartei, wollen unbedingt eine »tabulose« Debatte um den Aufbau einer europäischen Armee auf die Tagesordnung setzen.
Vor diesem Hintergrund muss man das Buch »Sterben und sterben lassen. Der Ukraine-Krieg als Klassenkonflikt«, das die kleine gewerkschaftslinke Gruppe Beau Séjour dieser Tage veröffentlicht hat, allen ans Herz legen, die den Verstand noch nicht verloren haben und dies auch weiterhin vermeiden möchten.
Schon der Name des Herausgeberkollektivs ist Programm: Er verweist auf die Schweizer Pension, in der 1915 die sogenannte Zimmerwalder Konferenz stattfand, ein internationales Treffen linker Kriegsgegner*innen. So heißt es im Vorwort von »Sterben und sterben lassen«: Wir richten uns »an alle Antimilitarist:innen, die gegenwärtig wohl leider ähnlich minoritär sind wie die sozialistischen Kriegsgegner, die sich im September 1915, als Ornithologen getarnt, in der Pension Beau Séjour im Schweizer Zimmerwald trafen und die angesichts ihrer Zwergenhaftigkeit darüber scherzten, dass ›es ein halbes Jahrhundert nach Gründung der Ersten Internationale möglich war, alle Internationalisten in vier Wagen unterzubringen‹«.
Die bissige Kritik der Beau-Séjour-Gruppe gilt sowohl dem »linken Bellizismus«, der die Armeen von Ukraine und Nato als »antiimperialistische Kampfeinheiten« imaginiert, als auch jeder Verharmlosung des »russischen Oligarchenkapitalismus«, der mit Vorliebe nationale Minderheiten im Artilleriefeuer verheizt. Wer sich hier auf eine der beiden Seiten schlägt, so die Herausgeber, hat schon verloren. Die Unterscheidung zwischen »guten und bösen Imperialismen« ist wieder einmal die große politische Katastrophe der Linken.
Zur Erläuterung dieser These ist »Sterben und sterben lassen« in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten Kapitel, das den Titel »Hinter den Frontlinien« trägt, kommen Kriegsgegner aus der Ukraine und Russland zu Wort. Die anarchistische Gruppe »Assembly« aus dem belagerten Charkiw berichtet, wie sie das Recht auf Desertion in ihrem Land zu verteidigen versucht, verlangt von westlichen Antimilitarist*innen aber auch, den innerrussischen Widerstand gegen Putins Krieg viel aktiver zu unterstützen, damit die Kriegsgegnerschaft nicht auf eine indirekte Parteinahme für das Putin-Regime hinausläuft. Die anarchosyndikalistische Gruppe KRAS aus Russland spricht darüber, wie die Eliten im postsowjetischen Raum den russischen und andere Nationalismen stark machen, um die soziale und ökonomische Ungleichheit zu verschleiern. Und die marxistisch-leninistische »Arbeiterfront« erinnert daran, dass auch in der ukrainischen Bevölkerung längst nicht alle vom Anliegen des Krieges überzeugt sind – vor allem Richtung Frontlinie nehme die Kriegsbegeisterung spürbar ab.
Das Beau-Séjour-Kollektiv verheimlicht in diesem Zusammenhang nicht, dass diese antinationalen Stimmen in ihren Gesellschaften marginalisiert sind. Doch ihre Frage bleibt trotzdem die entscheidende: Lassen sich soziale und demokratische Rechte im Schützengraben der Staatenkonkurrenz verteidigen, oder stärkt die nationale Mobilisierung unter Führung des Kapitals nicht zwangsläufig genau jenen Autoritarismus, den man doch angeblich besiegen will?
Im Kapitel »Wessen Krieg?« diskutieren deutsche und englischsprachige Autor*innen über die Möglichkeiten einer antimilitaristischen Bewegung. Der Historiker Axel Berger zeichnet nach, wie sich die Zimmerwalder Konferenz im Ersten Weltkrieg gegen die mehrheitssozialdemokratischen »Vaterlandsverteidiger« positionierte. Peter Nowak, Journalist aus Berlin, schreibt über Streiks und Sabotageaktionen, mit denen Arbeiter*innen in Italien, Belarus und Russland Waffenlieferungen zu verhindern suchten. Aaron Eckstein und Ruth Jackson von der Zeitschrift »Communaut« analysieren in einem wirklich lesenswerten Text, inwiefern der Krieg in der Ukraine gleichzeitig als russischer Angriff, als ukrainischer Bürgerkrieg und als geopolitische Konfrontation verstanden werden muss.
Ein letzter Aspekt schließlich – nämlich der geopolitische Konflikt – steht im Mittelpunkt des dritten Kapitels, das den Titel »Weltkrieg und Weltmarkt« trägt. Hier ist unter anderem ein älterer Text des Historikers Rainer Zilkenat aus dem Jahr 2014 abgedruckt, in dem nachgezeichnet wird, wie deutsche Großmachtpolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder einen Anspruch auf die Ukraine angemeldet hat. Aus den Reihen des »Communaut«-Magazins stammt ein Text über die Bedeutung von Pipeline-Projekten und Energieversorgung für den Ausbruch des Ukraine-Krieges. Und in einem nachgedruckten Interview des österreichischen »Mosaik«-Magazins erörtert Politikwissenschaftler Felix Jaitner das politisch-ökonomische System des Putin’schen Russland.
Nicht alle Beiträge des Sammelbands sind gleichermaßen überzeugend, und auch die konkrete Frage, wie sich eine antimilitaristische Bewegung in Anbetracht fehlenden politischen Bewusstseins überhaupt entwickeln kann, bleibt offen. Doch allein die Tatsache, dass sich hier Linke endlich offensiv gegen jede Parteinahme in der kapitalistischen Staatenkonkurrenz wenden, macht das Buch unverzichtbar. Die Grundaussage von »Sterben und sterben lassen« ist, dass es soziale Emanzipation nur gegen die beteiligten Kriegsakteure geben kann. Eine Position, die eigentlich selbstverständlich sein sollte.
Es sagt alles über unsere Zeit, dass man »Sterben und sterben lassen« als das Buch der Stunde bezeichnen muss. Ein linker Kleinstverlag hat einen Sammelband in einer niedrigen dreistelligen Auflage veröffentlicht, in dem jene Position stark gemacht wird, die eigentlich alle linke Parteien, Organisationen und Stiftungen vertreten müssten. Das Buch ist ein radikales Statement gegen jede nationale Mobilmachung und für einen antimilitaristischen Internationalismus, der seinen Namen verdient. Es gelte, den »Schleier des Geschwätzes von Freiheit, Nation und Aufrüstung« zu zerschneiden, schreiben die Herausgeber in ihrem Vorwort. Recht haben sie. Im Gemetzel der Schützengräben wird nichts verteidigt als der Zugriff der einen oder anderen Elite auf die Reichtümer eines Landes.
„Junge Welt“, 16.10.2024
Irgendwann ist Schluss
Ein nützlicher Aufsatzband über den Ukraine-Krieg
Von Gerhard Hanloser
Nicht nur Carola Rackete ist für mehr Raketen. Es finden sich in allen möglichen Milieus der Restlinken Vertreter, die sich für eine Bewaffnung der Ukraine gegen den russischen Angreifer aussprechen. Man sollte es sich nicht zu einfach machen und bloß Korruption, »antideutsch-bellizistische« Verwirrung oder Opportunismus bei ihnen ausmachen.
Ihre Argumente lauten: Man müsse dem Begehren der Angegriffenen nachkommen – und das seien nun mal »die Ukrainer«. Auf sie nicht zu hören, wäre westeuropäische Ignoranz. Sie verweisen auf die reaktionären Überbauphänomene des russischen Kapitalismus und meinen, dass die Ukraine »emanzipatorischer« und deswegen in ihrer Staatlichkeit zu verteidigen sei. Zudem bemühen sie gerne antifaschistische Analogien, sehen Putin als kriegslüsternen Despoten oder revisionistischen Raumeroberer, um vor jedem »Appeasement« warnen zu können.
In dem Sammelband »Sterben und sterben lassen. Der Ukraine-Krieg als Klassenkonflikt« eines internationalistischen Arbeitskreises, der sich den Namen Beau Séjour gegeben hat, ist nun wichtiges Material versammelt, um derlei ideologische Argumente zu entkräften, die lediglich dem neuen Militarismus Deutschlands ein linkes Mäntelchen umhängen. Beau Séjour war der Name der Pension in der Schweizer Ortschaft Zimmerwald, wo sich im September 1915 die sozialistischen Kriegsgegner trafen, im übrigen als Ornithologen getarnt. Zwei der Beiträge in dem Band fragen entsprechend nach der Aktualität der Thesen dieser Zimmerwalder Linken, die damals »Klassenkampf statt Burgfrieden« propagierten. Leider findet sich kein Text in dem Band, der die ausufernden Nazi- und Faschismusvergleiche zurückweist oder die Behauptungen, Russland führe einen »Vernichtungskrieg«.
Das Buch macht in über einem Dutzend thesenhafter Aufsätze, analytischer Artikel und längeren Interviews deutlich, dass es »die Ukrainer« nicht gibt. So kommt etwa der junge Kommunist Andrew aus Charkiw zu Wort, dem es im ersten Kriegsjahr zu desertieren gelang und der seitdem im europäischen Ausland lebt. Er spricht sich für Fahnenflucht auf allen Seiten aus und dafür, ein Klima der Unzufriedenheit zu stiften, das die Kriegsmaschine zum Stocken bringen könnte. Seine Einschätzung der Entfaltung von Klassenkämpfen in einem repressiven Klima ist pessimistisch. Er verweist auf die hohe Abhängigkeit des ukrainischen Staatshaushalts von Krediten und Anleihen und hofft auf Impulse von außen zur Beilegung des Konflikts. Ein anarchistisches Kollektiv aus der Ukraine erklärt, dass realistisch betrachtet nur riesige Investitionen aus dem Westen, aus China und der Türkei zu einem wirtschaftlichen Sprung in der Ukraine führen könnten, der das Land über den Vorkriegszustand hinausbringen könnte. Erst dann könne eine Massenbewegung der Arbeiterklasse, die im Moment weitgehend nationalistisch eingesponnen sei, entstehen. Wenn westliche Linke meinen, mit der Ukraine »die liberale Demokratie« verteidigen zu müssen, antworten sie: »Wir haben hier nichts zu verteidigen, außer die Macht der Obrigkeit und das Eigentum der Unternehmer.« Genauso sieht es die Gruppe Taniev, Arbeiterfront der Ukraine, die kategorisch festhält, dass in diesem Krieg keine nationalen Interessen verteidigt werden, sondern die Interessen des nationalen Kapitals: »Man verteidigt dann nicht die Menschen, die in der Ukraine leben, sondern das Kapital. Wer Waffenlieferungen befürwortet, macht sich mitschuldig an den Toten auf beiden Seiten.«
Dass die Menschen in der Ukraine ein Bauernopfer in einem übergeordneten imperialistischen Kampf sind, machen mehrere Aufsätze deutlich. Darin wird zuweilen dafür plädiert, die Bekundungen Putins ernst zu nehmen. Eine englische Diskussionsgruppe beschreibt, dass die herrschende Klasse Russlands nicht akzeptieren könne, dass ein Land im eigenen Hinterhof von den USA mit NATO-Waffen hochgerüstet wird. Moskau lasse sich der Logik moderner Staatlichkeit folgend natürlich nicht bereitwillig zu einer unbedeutenden »Regionalmacht« zurückstufen und kann dabei bislang noch Mehrheiten im eigenen Land hinter sich wissen. Den USA sei es allerdings gelungen, Russland in einen Abnutzungskrieg zu ziehen. Die auf Hegemonialmacht und Unilateralismus tendierende absteigende Supermacht spekuliere auf eine wirtschaftliche und militärische Schwächung Russlands. Die Gruppe lässt in ihrem Text offen, ob dies auch gelingt – es sieht nicht so aus.
In den zwei abschließenden Beiträgen diskutieren Aaron Eckstein, Ruth Jackson und Lukas Egger, warum trotz gegenteiliger Annahmen der Gaspreis in Deutschland und Europa nicht nach Kriegsausbruch konstant hoch blieb. Interessant ist, dass es tatsächlich zur raschen Ausweitung und Umlagerung von Kapazitäten kam. Doch die Gaskrise ist für Europa noch nicht ausgestanden. Das LNG (Flüssiggas) mit seinem hohen Frackinganteil ist ökologisch eine Katastrophe. Da würde sich eine stärkere Zusammenarbeit von Klima- und Friedensbewegung anbieten.
Ob der Ukraine-Krieg in erster Linie ein Klassenkonflikt ist, wie der Untertitel des Buches suggeriert, bleibt dennoch offen. Weder haben ausgeweitete Klassenkämpfe den Krieg motiviert, noch kann eine der Parteien für sich reklamieren, eher ein Klasseninteresse der unteren Klassen zu verkörpern, wie es die Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs glaubhaft vorgeben konnte. Auch scheint der Konflikt bislang noch nicht über ein Wiedererstarken von unabhängigen Klassenauseinandersetzungen gestoppt werden zu können. Die Parole »Sozialismus oder Barbarei« ist im Prinzip richtig, wird aber nur von Kleinstgruppen artikuliert. Druck durch Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung und Zwang zu Diplomatie von außen scheinen die realistischsten Wege zu sein, wie dieser Krieg zu einem Ende kommen kann. Wer ein »Immer mehr« an Waffenlieferungen fordert, steht auf seiten der Barbarei. Diese Leute wähnen sich auf der moralisch richtigen Seite und werden sich wohl auch durch dieses nützliche, faktenreiche Buch nicht überzeugen lassen.
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